Es geht wieder los. Heute ist der 1. Dezember und damit nicht nur der offizielle Start in die Weihnachtszeit, sondern auch der Weltaidstag. Seit dreißig Jahren wird er nun schon am 1.12. begangen, um an HIV/Aids und die Folgen für die Menschheit zu erinnern und Solidarität mit den Betroffenen zu zeigen.
Mir liegt dieser Tag immer ganz besonders am Herzen, deshalb werde ich auch heute meine rote Schleife tragen und versuchen, mein Wissen mit anderen Menschen zu teilen.
Weil wir aber heute auch das erste Türchen öffnen dürfen und ich die Weihnachtszeit wirklich sehr mag, werde ich meinem blog endlich ein bisschen mehr Aufmerksamkeit schenken.
Für einen richtigen Kalender, wie in den letzten Jahren fehlt mir die Zeit. Denn, da wartet noch ein großes und ein kleines Schreibprojekt auf die Fertigstellung.
Deshalb habe ich mir die Wochenenden ausgesucht und obendrein eine kleine Kurzgeschichte mit 8 Kapiteln geschrieben. Es gibt also jeweils Samstags und Sonntags ein Kapitel, am Sonntag habe ich dann auch immer einen kleinen Gewinn für euch. (Im Übrigen wird natürlich auch in diesem Jahr mein Lieblingsinternetshop schwängelbells dabei sein)
Ich hoffe, das erste Kapitel dieser kleinen Weihnachts-HIV_Geschichte wird euch gefallen oder zumindest neugierg auf die weiteren Teile machen.
Ich wünsche euch einen schönen Tag!
Karo Stein
1.
„Es ist real.“
Sönke schloss die Augen und zog gleichzeitig die Bettdecke über den Kopf. Dunkelheit umgab ihm, aber sie schaffte es nicht, die wirren Gedanken zu bändigen, die Unruhe zu besänftigen oder sein
wild klopfendes Herz zu zähmen. Die ganze Nacht hatte er kaum geschlafen. Jetzt war er müde, aber der Schlaf erlöste ihn trotzdem nicht. Es war real. Seit knapp zweiundzwanzig Stunden hatte er
die Gewissheit, auch wenn er bereits vorher wusste, dass es so sein würde. Trotzdem war es ein Unterschied, ein echter Schock, als seine Vermutung bestätigt wurde.
Er atmete schwer und versuchte die aufsteigende Panik im Zaum zu halten. Es gab doch keinen Grund dafür. Er kannte die Gefahr, wusste, worauf er sich einließ. Sönke war derjenige, der anderen
darüber Vorträge hielt, selbst dann, wenn sie es nicht wollten. Wissen ist Macht, war sein Leitspruch und es gab so viele Menschen, die sich nach all den Jahren immer noch nicht auskannten, an
denen die Fortschritte vorbeigezogen waren. Es war ihm ein inneres Bedürfnis etwas dagegen zu tun. Jeder sollte die Risiken kennen und sich bewusst entscheiden. So wie er es ebenfalls tat.
Bewusst entscheiden! Aber niemand hatte ihm gesagt, wie schwer es sein könnte, das Ergebnis dieser Entscheidung anzuerkennen und damit leben zu müssen. Sich nicht zu wünschen, er könnte die Zeit
zurückdrehen und alles anders machen.
Sönke rollte sich zur Seite und zog die Beine dicht an den Körper. Er spürte den Druck hinter den Augen und wehrte sich nicht dagegen. Heiß liefen die Tränen über sein Gesicht, kitzelten das
linke Ohr und verfingen sich feucht in seinen Haaren.
Er presste die Lider fest zusammen, aber der einmal in Gang gesetzte Tränenstrom ließ sich nicht aufhalten. Seit seiner Kindheit hatte er nicht mehr geweint. Jetzt war er 34. Er hatte bereits
einige traurige oder anrührende Szenen erlebt, aber das hier war anders. Alles verändernd und er schämte sich nicht, den Verlust seiner Gesundheit zu beweinen. Wurde nicht behauptet, dass Tränen
eine befreiende und reinigende Wirkung hatten? Vielleicht halfen sie ihm, auch wenn sein Schicksal längst besiegelt war. Für einen Moment stellte er sich sogar vor, wie das Virus auf diese Weise
aus seinem Körper gespült wurde.
Der Gedanke brachte ihn dazu, die Stirn in Falten zu ziehen. Wann hatte er sich denn zuletzt dermaßen kindisch verhalten? Im Grunde war seine Einstellung noch immer die gleiche: Bewusst
entscheiden und die Konsequenzen annehmen!
Das Bild des Arztes tauchte in seiner Erinnerung auf. Sönke wollte es verscheuchen, aber es gelang ihm nicht. Das weiße, beinahe sterile Zimmer mit den abstrakten Bildern an der Wand. Der Mann im
weißen Kittel, mit dem sorgenvollen Blick. Er sah, wie sich dessen Lippen bewegten, aber er verstand die Worte nicht. Sein Kopf war vollkommen leer, abgesehen von dichtem, undurchdringlichem
Nebel. Unfähig, irgendetwas anders wahrzunehmen, als diesen einen, alles verändernden Satz: Der Labortest bestätigt das positive Ergebnis.
Was für eine Überraschung! Nein, er wurde nicht eiskalt erwischt, hatte keinen einmaligen Fehler begangen, für den er jetzt bestraft wurde. Sönke hatte keinen Zweifel daran, dass dieser Tag
kommen würde. Eigentlich rechnete er bei jedem Test damit, aber diesmal wusste er schon lange, bevor er das Ergebnis in der Hand hielt, dass es anders sein würde. Er hatte es bereits seit mehr
als einem Vierteljahr geahnt. Viel zu genau konnte er sich an die eine, alles verändernde Begegnung erinnern. Überdeutlich stieg ihm der Geruch nach Gleitgel, Moschus und Sperma in die Nase, das
allgegenwärtige Stöhnen ... Haut, die beinahe schon obszön auf Haut schlug ... Der fremde Mann, der so heiß aussah, ihn so gut gefickt hatte, wie schon lange niemand mehr ... Danach kam das
Kratzen im Hals, ein bisschen Fieber und Husten. Eine Erkältung, wie sie viele andere auch hatten, denn der Sommer war schlagartig in den Herbst übergegangen, und hatte einen deutlichen
Temperaturabsturz mitgebracht.
Innerlich vermutete Sönke, dass seine Symptome einen anderen Grund hatten, aber er versuchte die Wahrheit zu ignorieren. Zwei Wochen später ging er zu seinem vierteljährigen Schnelltest. Es war
längst zur Routine geworden, beinahe wie der Besuch beim Zahnarzt. Bisher war jeder Test negativ, auch wenn er oft auf jeglichen Schutz verzichtete. Es war einfach geiler, ohne Gummi zu ficken.
Es war ... Sexpartys und Kondome passten für ihn nicht zusammen. Der Verstand blieb bei solchen Events vor der Tür. Lust und Verlangen übernahmen die Kontrolle. Niemand wollte ständig das Gummi
wechseln oder aufpassen, dass es korrekt saß oder ... Nein, Kondome gehörten einfach nicht dorthin. Die Gefahr war auch nicht das Problem, denn Sönke kannte sich aus, dachte, er wüsste Bescheid
und nahm das Risiko bewusst in Kauf. Schon eine ganze Weile hatte er über die kleinen Wunderpillen nachgedacht, konnte sich jedoch nicht zum Kauf entschließen. Es erschien ihm zuviel Chemie für
ein bisschen Ficken. Jetzt lagen die Dinge natürlich anders. Anstatt sie zum Ficken zu Schlucken, würde er nun für den Rest seines Lebens von dieser Chemie abhängig sein und konnte nur hoffen,
dass sein Körper damit zurechtkam.
Der Test nach zwei Wochen war natürlich negativ. Sönke wusste es und zum ersten Mal in seinem Leben, verspürte er keine Freude. Die Angst blieb, die Sorgen ließen sich nur teilweise ignorieren.
Es reichte jedoch nicht, um nach sechs Wochen einen Labortest zu machen. Plötzlich wollte er vor der Wahrheit davonlaufen, sich ein sinnloses Zeitfenster verschaffen. Er vergaß all seine
Vorsätze, all die Reden, die er geschwungen und all die Kampfsätze, die er zitiert hatte. Teste dich! Kein Aids für alle! Je eher du deinen Status kennst, umso besser!
Zum ersten Mal sah er voller Sorge in seine Zukunft. Er verspürte nicht einmal Lust auf Sex, ging höchsten zum Tanzen in einen Club, aber vermied den Darkroom und schlug diverse Angebote aus.
Sein Handy lief nahezu über vor Anfragen und Einladungen zu Partys, aber er fühlte sich auf einmal übersättigt und beinahe wütend.
Ende November war es Zeit für den nächsten Test. Sönke drückte sich nicht davor, aber die Zuversicht und Leichtigkeit wollten sich nicht einstellen. Er erinnerte sich daran, dass er sogar einige
Male nach einem negativen Test enttäuscht war. Wie viel einfacher erschien es ihm, regelmäßig Tabletten zu schlucken und sobald die Nachweisgrenze unterschritten war, keine Gefahr für andere zu
sein. Schutz durch Therapie war wie ein heiliger Gral.
„Fuck“, knurrte er gegen das Kissen. Wenn alles gut ging, würde ihm der Gral tatsächlich bald gehören, dabei wollte er ihn nicht mehr. Er bedauerte die Sache mit den Kondomen nicht, sondern
fürchtete sich vor dem, was in seinem Körper war. Es war unlogisch, vollkommen surreal, aber auf einmal erschien er sich selbst fremd. Sein Schwanz war nicht mehr sein bester Freund, sondern eine
Bedrohung. Sein Arsch nicht mehr perfekt rund und eng, sondern ... Sönke schluckte schwer, wälzte sich auf die andere Seite und verfluchte den Schmerz, der ihn zu lähmen schien.
Von unten erklang das nervige Brummen des Staubsaugers. Es war Samstag. Seine Mutter räumte, wie an jedem Samstag die Wohnung auf. Routine. Vermutlich hatte er diese Eigenschaft von ihr
geerbt.
Sie wohnten in einem Zweifamilienhaus. Früher, als er noch ein Kind war, lebten seine Großeltern in diesen Räumen. Sie starben kurz nacheinander, da war er gerade siebzehn. Niemand zwang ihn hier
oben einzuziehen. Er wollte bei seiner Familie sein und hatte keinen ausgeprägten Drang, die Welt zu erobern. Sönke brauchte ein Zuhause. Er liebte seine Eltern, war dankbar dafür, dass sie kein
Problem mit seinem Outing hatten und die Tatsache, dass er schwul war, niemals auf eine unangenehme Weise in den Vordergrund stellten.
Sönke war sich nicht sicher, ob und wann er seinen Eltern erzählen würde, was mit ihm geschehen war. Nicht mehr vor Weihnachten. Er wollte nicht ihre entsetzten Gesichter sehen oder die Sorge
spüren. Ein letztes Weihnachtsfest frei von allem, auch wenn er natürlich wusste, dass er sich selbst etwas vormachte. Seine Mutter würde merken, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Sie würde keine
Ruhe geben, aber er wollte ihren vorwurfsvollen Blick nicht sehen. Für seine Eltern war HIV und AIDS quasi dasselbe. Es gab so viele Gespräche, die immer damit endeten, dass seine Eltern ihn an
Kondome erinnerten. Manchmal lag sogar eine Packung auf den Stufen zu seiner Wohnung. Natürlich erzählte Sönke ihnen nichts über sein Sexualleben. Das, was auf den Partys abging, war nichts für
ihre Ohren, vor allem nicht für ihre Fantasie. Sie sollten ihn nicht so sehen. Natürlich nicht. Er schauderte und konnte gleichzeitig ein Grinsen nicht verkneifen.
Unter der Decke wurde es allmählich heiß. Stöhnend, schlug er sie soweit zurück, dass sein Kopf wieder frische Luft bekam. Er schaute aus dem Fenster. Grau in grau zeigte sich der Morgen des
ersten Dezember. Sönke schüttelte den Kopf und ein bitteres Lachen entkam seiner Kehle. Ausgerechnet zum Weltaidstag. Normalerweise ging er an diesem Tag in seine Lieblingskneipe. Dort gab es in
jedem Jahr eine Spendenparty. Meist waren auch die Schwestern anwesend. Sie konnten die Leute auf ihre ganz besondere und eigene Weise dazu bewegen, Geld in die Sammelbüchsen zu werfen. Auch
Sönke war immer sehr großzügig. Es wurde viel getrunken, meist gab es auch die Möglichkeit Karaoke zu singen oder sich bei diversen albernen Spielchen zum Affen zu machen. Er hatte es
geliebt.
Zum ersten Mal regte sich Widerstand in ihm. Gestern, nach dem Besuch beim Arzt, hatte er spontan entschieden, nicht hinzufahren. Jetzt fragte er sich jedoch, weshalb er ausgerechnet in dem Jahr
darauf verzichten sollten, in dem er nun auch zu den Betroffenen zählte. Das erschien ihm verdammt scheinheilig.
Entschlossen schob Sönke die Decke ganz vom Körper, schwang die Beine über die Kante und setzte sich auf. Für einen kurzen Moment wurde ihm schwindlig, dann erhob er sich, streckte die Arme nach
oben und ließ seinen Kopf kreisen.
Bisher stand er immer auf der anderen Seite. Vielleicht war es nur ein schmaler Grat oder eine dünne Linie gewesen, die ihn von den Anderen trennte. Nun hatte er sie überschritten und es gab kein
Zurück. Das Virus war in seinem Körper und würde nicht wieder verschwinden. Der Termin für den ersten Besuch bei einem Stützpunktarzt lag im Portemonnaie. Das Datum hatte sich jedoch längst in
seinem Gehirn eingebrannt. Es waren noch zwei Wochen Zeit, bis er sich den Medikamenten stellen musste. Weitere Untersuchungen ... nur die Routine eines regelmäßigen HIV-Tests, die würde es ab
jetzt nicht mehr geben. Sönke wusste nicht, ob er darüber froh oder entsetzt sein sollte.
Er atmete tief durch, griff auf dem Weg ins Bad nach seinem Handy und entsperrte das Display. Pauline, seine beste Freundin hatte ihm eine Nachricht geschrieben. In der Gruppe, in der er sich für
Sexpartys verabredetet, war in der vergangenen Nacht auch einiges losgewesen. Er hatte in den letzten Tagen nur selten dort nachgeschaut, denn seine Lust befand sich irgendwo im Nirwana.
Sönke öffnete Paulis Mitteilung, las sie und konnte ein Knurren nicht verhindern. Das hatte er ja vollkommen vergessen ...
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Piccolo (Samstag, 01 Dezember 2018 18:13)
Hey Karo,
schön, dass es dieses Jahr auch wieder einen kleinen Adventskalender bei dir gibt.
Obwohl Sönke sicherlich ein ganz netter ist, kann ich mich momentan noch nicht so ganz mit ihm anfreunden. Er hat mit seiner Gesundheit gespielt und jetzt die Quittung dafür bekommen. Es klingt hart, aber selbst schuld, obwohl er es besser weiß. Dennoch hoffe ich sehr, dass er jetzt einen neuen Weg finden wird.
Sorry, für meine harschen und vielleicht auch nicht ganz fairen Worte.
LG Piccolo
Jana P. (Samstag, 01 Dezember 2018 18:24)
Hallo Karo, Danke für das erste Türchen und den Anfang dieser tollen Geschichte.
Was geht bloß in den Köpfen einiger Männer vor? Niemand, der in einer aufgeklärten Welt lebt, muß mehr HIV bekommen. Ich bin trotzdem gespannt, wie es mit Sönke weiter geht. Bis bald und LG